30. Juli 2024
Mit illegalen Aktiendeals haben Banken Milliardenprofite auf Kosten der Allgemeinheit gemacht. Während der Staat bei Armutsdelikten ganz genau hinschaut, werden Finanzakteure und Banken laufen gelassen.
Während Sozialbetrug sorgfältig geahndet wird, werden beim größten Steuerraub der deutschen Geschichte die Verfahren eingestellt (Symbolbild).
In Zeiten von Krieg und Krise sollen wir den Gürtel enger schnallen. Die Staatskassen seien schließlich leer. Deshalb wird jeder Euro umgedreht, Budgets eingedampft, das Existenzminimum noch weiter gedrückt. Wo der Staat Sozialausgaben tätigt – etwa beim Bürgergeld –, wird engmaschig kontrolliert. Doch da, wo wirklich etwas zu holen ist, wird kaum ermittelt.
Durch den Steuerbetrug der Cum-Cum- und Cum-Ex-Geschäfte erbeuteten große Finanzakteure aus Steuerkassen schätzungsweise 36 Milliarden Euro. Die Ermittlungen liefen so schleppend, dass die zuständige Staatsanwältin und Chefermittlerin Anne Brorhilker kündigte und nun durch außerparlamentarische Arbeit versucht, Finanzkriminalität zu bekämpfen.
Die Begrifflichkeiten dieses Steuerskandals klingen komplizierter, als sie tatsächlich sind. Cum-Cum- und Cum-Ex-Geschäfte sind Kreisverkäufe, bei denen mit Aktien gehandelt wird. Dabei geht es darum, sich Steuerrückzahlungen vom Staat ausschütten zu lassen, auf die kein Anspruch besteht. Bei Cum-Cum-Geschäften haben die Akteure kein Recht auf Erstattungen, bei Cum-Ex-Geschäften lassen sich Akteure zu Unrecht mehrfach die Kapitalertragssteuern erstatten. Das heißt, Banken und Großinvestoren hinterziehen nicht etwa Steuern, sondern greifen direkt Geld aus der Staatskasse ab.
Cum-Ex-Geschäfte sind seit einigen Jahren ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Die Staatsanwältin Anne Brorhilker arbeitete über zwölf Jahre an der Aufklärung und Rückerstattung des Geldes. Die Ermittlungen gaben Einblicke in die Verflechtungen von Finanzkapital und Politik. Der prominenteste Fall ist der des amtierenden Bundeskanzlers und Ex-Bürgermeisters von Hamburg Olaf Scholz. Der hatte sich mit dem Warburg-Chef Christian Olearius getroffen, dessen Bank Cum-Ex-Profite gemacht hatte und ins Fadenkreuz des Finanzamtes geraten war. Scholz behauptete felsenfest, sich nicht an die Details dieser Gespräche erinnern können. Fest steht, dass von Steuerrückzahlungen der Warburg-Bank abgesehen wurde, während Olaf Scholz gerade Bürgermeister war. »Da geht es oft um Täter mit viel Geld und guten Kontakten, und die treffen auf eine schwach aufgestellte Justiz«, so Brorhilker während ihrer Zeit als Ermittlerin. Sie hatte schließlich genug vom institutionellen Versagen und gab ihre Stelle als Staatsanwältin auf, um bei der NGO Finanzwende gegen Steuerkriminalität vorzugehen.
»In Nordrhein-Westfalen weigert sich das Finanzministerium Informationen zu Cum-Cum-Geschäften herauszugeben – aus Angst vor Reputationsschäden der Beteiligten.«
Die Cum-Cum-Geschäfte können als großer Bruder der Cum-Ex-Geschäfte begriffen werden – ähnliches Prinzip, höherer Schaden. Die Verfolgung steht noch am Anfang. Der Bundesfinanzhof hat im Jahr 2015 geurteilt, dass Cum-Cum-Geschäfte illegal sind. Dennoch fertigte das Bundesministerium für Finanzen im Jahr 2016 ein Schreiben an, das den Tatbestand verkomplizierte und Schlupflöcher ermöglichte – warum, ist noch nicht geklärt. Auf Anfragen der NGO Finanzwende reagieren Bundes- und Landesfinanzministerien lediglich mit geschwärzten Dokumenten.
Die Finanzlobby ist die größte Lobby Deutschlands. Ganze 200 Millionen Euro gibt sie pro Jahr aus, um Abläufe in Parlament und Ministerien zu beeinflussen. Die Arbeit trägt Früchte. Die Ministerien scheinen sich eher den Banken als der Allgemeinheit gegenüber verpflichtet zu fühlen. In Nordrhein-Westfalen weigert sich das Finanzministerium Informationen zu Cum-Cum-Geschäften herauszugeben – aus Angst vor Reputationsschäden der Beteiligten. Die Schäden der Cum-Cum-Geschäfte in Höhe von 28,5 Milliarden Euro scheinen dabei nicht von Interesse zu sein. Finanzminister Lindner gelobte zwar, gegen Betrug vorzugehen, und gründete das Bundesamt zur Bekämpfung von Finanzkriminalität. Das beschäftigt sich jedoch größtenteils mit Geldwäsche, nicht mit Steuerbetrug.
Wenn man keine Bank ist, wird Betrug gewissenhaft strafrechtlich verfolgt. Der Staat sorgt sich gerade dann um den Betrug bei der Auszahlung von Staatsgeldern, wenn er so gegen die Schwächsten der Gesellschaft vorgehen kann. Während institutionalisierte, finanzstarke Entitäten durch Lobbyarbeit Gesetzgebungsverfahren beeinflussen, der Verfolgung entgehen und durch juristische Expertise Schlupflöcher ausnutzen können, unterliegen die Schwächsten einer engmaschigen staatlichen Kontrolle.
In Sachen Bürgergeld bekämpft der Staat den Betrug mit allen Mitteln. Es gibt weitreichende staatliche Mechanismen, die potenziellen strafrechtlich relevanten Betrug aufdecken sollen. So werden unter anderem regelmäßig Daten zwischen Jobcenter und Rentenversicherung abgeglichen, es gibt sogar das Instrument der Denunziation: »Hinweise zu einem möglichen Leistungsmissbrauch« können direkt dem Arbeitsamt via Formular anonym mitgeteilt werden. Zuletzt erweiterte ein Gesetz im Jahr 2019 Befugnisse und Einsatzkräfte des Zolls. So soll dieser effektiver gegen Schwarzarbeit, aber auch gegen Sozialleistungsmissbrauch vorgehen können.
»Der Finanzwissenschaftler Christoph Spengel bezifferte den Steuerschaden durch Cum-Cum- und Cum-Ex-Betrug auf mindestens 31,8 Milliarden Euro.«
Wenn es aber um Betrug in großen Stil geht, ist der Staat bedeutend schlechter aufgestellt. In Hessen, Standort der Finanzmetropole Frankfurt, beschäftigen sich gerade einmal zehn Beamte mit den Cum-Cum- und Cum-Ex-Verfahren.
Die institutionelle Ausstattung ist diametral zur verursachten Schadenshöhe. Die Bundesagentur für Arbeit bezifferte den Schaden durch Sozialleistungsbetrug im Bereich von Bürgergeld im Jahr 2022 auf 272,5 Millionen Euro. Hinzu kommen noch die Angaben vom Zoll, die jedoch keinen Unterschied zwischen Arbeitslosengeld und Bürgergeld machen und sich auf 87,9 Millionen Euro belaufen. Der Finanzwissenschaftler Christoph Spengel bezifferte den Steuerschaden, der in den Jahren 2001 bis 2017 durch Cum-Cum- und Cum-Ex-Betrug entstand, auf mindestens 31,8 Milliarden Euro. Das wären im Schnitt mindestens 1,8 Milliarden Euro im Jahr – ein Schaden in deutlich höherer Dimension als der des jährlichen Sozialhilfebetrugs.
Der Staat misst mit zweierlei Maß. Wenn es um arme Menschen geht, wird jeder Euro kontrolliert. Wenn jedoch reiche Finanzakteure Geld aus der Staatskasse entwenden, wird weggeschaut oder aktiv vertuscht. Der Staat sollte sich das Geld da zurückholen, wo in großen Stil betrogen wird: bei Banken und internationalen Finanzakteuren. Sie sind es nämlich, die der Allgemeinheit auf der Tasche liegen.
Caroline Rübe ist Politökonomin und arbeitet im Konzeptwerk Neue Ökonomie.